Als ich nach der gewittrigen Nacht erwachte, war schon eine gewisse Grundanspannung vorhanden. Wer konnte es mir auch verübeln, schließlich sollte es kurz nach dem Start über die wohl bekanntesten 21 Kehren des Radsports gehen. Alpe d’Huez. Abgesehen vom Mont Ventoux, über den ich zum Abschluss meiner Tour auch noch fahren würde, gibt es keinen Anstieg der eine derartige Berühmtheit zuteil wird.

Nun wollte ich endlich selbst erfahren, was es mit dem Mythos Alpe d’Huez auf sich hatte. Während sich meine Gedanken noch um den so klangvollen Namen und seine Geschichten drehten und mir die Namen gedopter Radsportgrößen durch den Kopf schossen [Pantani, Ullrich, Armstrong], lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das war wörtlich zu nehmen, denn einmal mehr entleerte sich der graue Himmel. Alpe d’Huez. Der Großteil der Radfahrer, die sich Alpe d’Huez (oder irgendeinen anderen Berg in der Region) vorgenommen haben, defensiv geschätzte 99,5%, lagen noch in ihren Hotelbetten, oder genehmigten sich gerade ein saftiges Frühstück in warmen und trockenen vier Wänden. Ich saß zittrig und durchgefroren auf meinem bepackten Stahlross und bahnte mir den Weg durch den matschig-feuchten Wald. #bikepackinglife

Endlich erreichte ich die Straße. Die tiefhängenden Wolken waberten durch das Tal – 50 shades of grey. Mystische Stimmung für einen legendären Anstieg. Eine Digitalanzeige gab Auskunft darüber wie viele Verrückte sich in diesem Jahr (2017) [45393] und an diesem Tag [2] bereits an dem Berg versucht hatten.

14 km, 21 Kehren,7,9% durchschnittliche Steigung. Soweit die Zahlen. Die scharfen Haarnadelkurven sind die einzigen Stellen, die ein wenig Erholung versprechen. 21 mal durchschnaufen. Deshalb hängen auch genau dort die Namen derer, die sich hier ganz oben auf den Ergebnislisten eintragen konnten. Geständige Doper, nie entdeckte Doper, noch nicht entdeckte Doper. Ganz sicher: Viele Doper.

Aber mal abgesehen von den dunklen Schatten der Vergangenheit, und hoffen wir inständig, dass dieses Thema wirklich der Vergangenheit angehört, wurden hier eindrucksvolle Leistungen erzielt. Leistungssteigernde Mittel hin oder her. Allen voran Marco Pantani, der 1997 die noch immer bestehende Bestzeit aufstellte. Gemeinsam mit Richard Virenque (geständiger Doper) und einem Fahrer aus dem Team Telekom, einem gewissen Jan Ullrich (er gewann die Frankreich Rundfahrt im selben Jahr; nicht geständiger, aber überführter Doper), ging es in den Anstieg hinein; dann zündete der „Pirat“ seine Kanonen und stampfte Nähmaschinen-gleich in seinem unnachahmlichen Wiegetritt gen Radsportolymp. Beängstigend! Beeindruckend, berücksichtigt man die Tatsache, dass diese Leistung am Ende einer profilierten Bergetappe aufgestellt wurde und selbst bei Bergzeitfahren nicht angetastet werden konnte. 37:35 Minuten. Wahrscheinlich für die Ewigkeit.

Während mir Gedanken wie diese durch den Kopf gingen, lichtete sich die graue Wolkendecke allmählich und gab den blauen Himmel frei. Mein Blick wanderte vom Müll am Straßenrand zu den Siegernamen in den Kurven und hinüber ins Tal und den gegenüberliegenden Berghängen. Im letzten Drittel des Anstiegs wurde es richtig heiß und ich malte mir aus wie anstrengend es für die vielen hundert oder tausend anderen Radfahrer werden würde, die im weiteren Tagesverlauf hier entlang fahren würden.
Ähnlich kitschig wie der Anstieg selbst, gestaltete sich auch die Ankunft in den Ort, der ursprünglich nur als Skiort bekannt war. Das war auf jeden Fall bevor die „Holländerkurve“ etabliert wurde. Orangener, Bier-getränkter Wahnsinn.

Nach einem schnellen Ankunftsfoto, suchte ich mir ein sonniges Plätzchen oberhalb des morgendlichen Trubels. Ich breitete mein nasses Zelt und meine feuchten (schwitzigen ? ) Klamotten in der Sonne aus – die ersten Rennradfahrer erreichten ebenfalls das Bergdorf.
Unterdessen zog ich mein Resümee: Kann man machen. Muss man aber nicht. Wahrscheinlich ist das Problem mit Alpe d’Huez, dass sich zuviele Erwartungen an den geschichtsträchtigen Namen knüpfen. Ein bisschen so wie bei den gehypten Bergetappen bei denen jeder Experte die Vorentscheidung herbeizukommentieren versucht und letztlich nichts passiert. Und dann ist es oftmals der unbekannte, unterschätzte Anstieg, oder einfach ein flacher Abschnitt im Wind, der die ersehnte Spannung und Überraschung bringt. Alpe d’Huez. Ein weiterer Haken auf der Liste. Wenig mehr.

Nachdem meine sieben Sachen getrocknet waren, setzte ich meinen Weg fort. Nach oben! Oh ja, Alpe d’Huez ist nämlich nicht der höchste Punkt. Und damit folgte für mich eines der absoluten Highlights dieser Tour: Der Col du Sarenne. Einsam, schmal und friedlich windet sich die zur Unkenntlichkeit ausgebesserte Straße weiter nach oben. Dort sind es nicht die Autos oder der Zivilisationsmüll, sondern die umherschwirrenden Bremsen, die sich über die dahinschleichenden Radfahrer hermachen. Auf dem Weg zum Sarenne reduzierte sich das Fahren endlich wieder auf das Wesentliche: Treten, atmen, weiter.

Die Hitze stand im Berg. Auf den Wiesen strotzte es nur so vor Leben: Surren, brummen, zirpen überall. Dieses Naturerlebnis wurde lediglich durch das Schnaufen und Keuchen der anderen Radfahrer gestört, die anscheinend aus Großbritannien kamen. Zumindest der sonnenverbrannten Hautfarbe und dem Akzent nach zu urteilen .
Wenn der Zustand des Weges nach oben schon gewöhnungsbedürftig war, so war es abwärts einfach nur lebensgefährlich. Kaum zu glauben, dass der Tross der Tour im Rennmodus hier heruntergeknallt ist! Mein Blick wanderte aufmerksam zwischen Schlaglöchern, Sonne, Schatten und der umwerfenden Landschaft: Wasserfälle, schroffe Berghänge, grüne Hügel und glitzernde, schneebedeckte Berggipfel. Magnifique! Alpe d’…wer?
Kein Lüftchen wehte. Und trotz der Höhe von 2000 Metern war es knallend heiß. Entsprechend dankbar war ich für den Fahrtwind auf der Abfahrt. Wirkliche Erholung kam aufgrund des miserablen Straßenzustands jedoch nicht auf. Ein kleiner Ort und natürlich hatte ich wieder einen ordentlichen Appetit aufgebaut. Da gab es nur eins: Sandwich (ausgesprochen: Zondwitch). Also ein belegtes Baguette. Mit Kaffee. Doppelt.
Wenn ich noch ausreichend Bargeld gehabt hätte, wäre ich auf einem Campingplatz eingekehrt, um mich für die anstehenden Bergriesen auszuruhen. Kein Geld, kein Bankautomat, keine Pause. Also weiter. So einfach kann es sein. Als ich dann Geld abheben konnte, war es auch nicht mehr weit bis zum nächsten Gipfel. Aber erst nochmal etwas auftanken: Energie in Form von Cola. Kaltes, braunes Radfahrerglück.
Rückblende: Australien 2012. Irgendwo im Nirgendwo zwischen Sydney und Perth. Es ist heiß und die Distanzen zwischen den Ortschaften sind für mich ungewohnt groß. Zum Glück gibt es die herzlich, fürsorglichen Australier, die in ihren Autos Kühlboxen mit Getränken bereithalten. Unzählige Male wurde mir angeboten mich mitzunehmen. Immer bevorzugte ich etwas zu Trinken. Kühles Wasser, oder, der absolute Hochgenuss, eiskalte Cola. Wer mich etwas kennt, weiß, dass ich sowas nicht trinke. Außer eben beim Radfahren. Seitdem verbinde ich mit diesem Getränk etwas ganz besonderes. Doch eines steht aucht fest: Nirgends wird Cola wieder so gut schmecken, wie damals in Australien.
Energetisiert und in Erinnerungen schwelgend schickte ich mich an den Col du Lautaret und von dort den Galibier anzugehen. Was vorher unvorstellbar war, fühlte sich nach der kurzen Pause und inmitten dieser wundervollen Landschaft beinahe leicht an. Beinahe.

Auf dem Lautaret sorgte ein doppelter Espresso mit doppelt, dreifach, fünffach Zucker für den letzten Schub. Galibier.

Gemeinsam mit vielen weiteren Radlern, die sich einen Traum erfüllten, bog ich nach links ab: Col du Galibier 8 Kilometer, sagte das Schild. Das war überschaubar. Und überhaupt konnte man auf diesem Anstieg alles gut überblicken. Es war das erste Mal, dass mir beim Blick über die Bergflanken etwas mulmig wurde. Steil und tief ging es nach unten.

Mittlerweile waren wieder einige Wolken aufgezogen und es war nicht mehr so unangenehm heiß, was die Kletterei ein wenig erleichterte. Der Regen wartete noch bis ich auf der Abfahrt war. Weiß nicht, ob das besser war, als im Anstieg. Jedenfalls waren die Tropfen eisig kalt und pieksten wie Nadelstiche in meinem Gesicht. Ein wahres Dilemma, wenn man schnell runter will, aber auf der spiegelnassen Straße (steile Abhänge!), nicht schnell fahren kann. Binnen Sekunden wich jedes Gefühl aus meinen Fingern und Knien. Da war sie wieder, die Zwiespältigkeit des Radreisens: Im einen Moment Himmelhoch jauchzend, im nächsten zu Tode betrübt. Ganz so schlimm war es nicht, aber es beschreibt das Gefühlskarussel recht gut. Und während ich siechend langsam, aber so schnell es ging nach unten fuhr, entspannte sich auf einmal alles und ich wurde von einer überwältigenden Leere erfasst: Das war es. Keine Berge mehr – bitte! Kein Bock. Keine Energie mehr. Damit meine ich nicht die Energie, welche die Muskeln füttert, sondern vielmehr den Willen, der mich bis zu diesem Punkt getrieben hatte. Der Mont Ventoux stand noch auf meinem Zettel. Gewissermaßen als krönender Abschluss. Auf zum kahlen Riesen! Aber nicht sofort, auf den gut 300 Kilometern bis in die Provence würde ich hoffentlich ausreichend auftanken können, um diesen ebenfalls legendären Berg genießen zu können.

Es hörte auf zu regnen und langsam kehrte Gefühl in meine Gliedmaßen zurück. Die Abfahrt ging weiter. Und weiter, und weiter. Auf der Straße herrschte zwar viel Verkehr, aber da ich so schnell und schneller als die Autos war, musste ich mir um waghalsige Überholmanöver keine Gedanken machen. Stattdessen aber um einen Schlafplatz. Denn soweit ich ins Tal blicken konnte, sah es wenig vielversprechend aus, was ein ruhiges Plätzchen anging. Aber noch rollte ich ja.

Zur rechten Zeit ermöglichte mir ein Feldweg ausreichend weit weg von der Straße kommen. Auf einem Feld konnte ich gerade wieder rechtzeitig mein Zelt aufstellen, bevor der nächste Guss von oben kam. Was für ein Tag! Bonne nuit.
