Die Nacht war sternenklar. Und auch, wenn es tagsüber richtig heiß war, so kühlte es nachts doch stark ab. Immerhin befand ich mich auf gut 4000 Metern Höhe. Ich erwachte, wie sonst auch, mit dem ersten Tageslicht, wühlte mich aus dem Schlafsack und versuchte erstmal wieder warm zu werden. Das bedeutete viel Bewegung und schnellstmöglich den Kocher in Gang bringen, um das Frühstück und, weitaus wichtiger, heißen Kaffee zuzubereiten. Mit dem schwarzen Gold in dem einen und einer Radfahrerportion Porridge im anderen Pott, erwachten meine Lebensgeister wieder zum Leben.

An diesem Ort könnte ich jeden Morgen frühstücken. Der Mond stand noch am Himmel und das weiche Morgenlicht verlieh dieser phänomenalen Landschaft den berühmten letzten Schliff. Da war es wieder, dieses übermächtige Gefühl von Freiheit. Ein Gefühl von dem man erst weiß wie es sich anfühlt, wenn man es tatsächlich erfahren hat. Angenehm beschwingt und auch ein bisschen wärmer, setzte ich meine Reise fort. Ein bisschen wehmütig, aber umso gespannter, welche anderen Orte noch auf mich warteten.

Der Wind war eisig. Und kam natürlich von vorne. Aber ich wusste, dass er im Laufe des Tages wieder in meinem Rücken sein würde. (Thermik, oder wie sich das nennt. Wenn man Berge fahren will oder muss und das Wetter gut ist, dann am besten nachmittags. Da drückt einen die warme, aufsteigende Luft nach oben).

Immer weiter, immer weiter. Vorbei an einer Yak-Herde und gefolgt, oder verfolgt(?), von einem einsamen Hund.

Seit dem frühmorgendlichen Zwischenfall vor einigen Tagen, hatte ich gewisse Vorbehalte, was den “besten Freund des Menschen” anbelangte. Ich denke, man kann festhalten, dass Hunde definitiv nicht die besten Freunde von Radfahrern sind. Dieses Exemplar war jedoch friedlich. Dem Anschein nach ein wandernder Flohzirkus. Er folgte mir lange. Bis über den Pass! Erst als ich signifikant schneller fahren konnte, also bergab, verlor ich ihn aus den Augen. Das waren sicherlich 20 Kilometer. Respekt dafür.

Nach der beschwerlichen Abfahrt, Gegenwind, immernoch, tauchte ein einsames Gebäude in der Ferne auf. Mein sehnlichster Wunsch wurde erfüllt, denn es war ein Teehaus und Homestay. Die Kletterei, die Höhenluft und der kalte Wind kosteten einiges an Energie. Und sobald ich registrierte, dass es in dem Häuschen etwas zu futtern geben könnte, kam der Appetit über mich.

In routinierter Zeichensprache bestellte ich etwas zu essen. Ein Kind brachte mich in die gut geheizte Stube und bat mich auf einem Teppich Platz zu nehmen. Dann wurde aufgetischt: Frittierter Teig, diesmal süß, Tee, zweit Varianten Butter, ich vermutete Yak-Butter und ein Teller voller Süßkram. Ich aß, was auf den Tisch kam und tat mich schwer wieder aufzustehen. Nicht nur, weil ich bis obenhin voll gefuttertet war.

Bis auf die Yaks und den Hund, war ich an diesem Tag absolut alleine gewesen. Und als ich gerade weiterfahren wollte, rollten gerade vier Radfahrer über den sandigen Platz auf mich zu. Ein Pärchen aus der französischen Schweiz, eine Asiatin und ein Franzose. Ich empfahl die Einkehr und setzte meinen Weg fort. Eine weitere Radfahrergruppe folgte sogleich. Holland und dreimal Korea. Allerdings in entgegengesetzter Richtung fahrend.

Ein bisschen auf und ab und wieder eröffnete sich ein neues Tal, in dem ich sodann auch mein Tagesziel erspähen konnte. Von weitem sah der Ort noch recht beschaulich aus.

In Murghab checkte ich ins Pamir-Hotel ein. Und weiter ging das Radreisetreffen in Tadschikistan. Ich stolperte in zwei Schweizer und fragte mich, ob gerade alle Schweizer mit dem Rad in Tadschikistan unterwegs waren. Außerdem haben die zuhause doch genug Berge. Jedenfalls gesellte ich mich zu den zwei Feiernden, denn die beiden waren gerade am Ende ihrer Reise. Nach einer Rundtour, warteten sie gerade auf ihren Fahrer, der sie nach Osh bringen sollte. Von dort ging der Rückflug. “Dann lieber mit dem Fahrrad!”, kommentierte ich diesen Horrortrip.
Danke, aber nein danke. Wir unterhielten uns prächtig, während ich von den üppigen Resten ihres Festmahls naschen durfte. Irgendwann war der Fahrer mit seinem klapprigen “Taxi” in Form eines ramponierten Pick-Up’s da und es hieß wieder Abschied nehmen. Noch immer ungeduscht, traf ich einen weiteren Radler. Sam aus England. Aber ähnlich wie ich, hatte er auch kein großes Interesse einen weiteren Radfahrer kennenzulernen und unser Gespräch verlief nur zwischen Tür und Angel. Er war in Südkorea gestartet und radelte in der Gegenrichtung Richtung Heimat.
Mittlerweile geduscht, trafen nun auch die Gefährten vom Teehaus ein. Ich war froh einen Zahn schneller unterwegs gewesen zu sein, denn wenn man so lange fährt, bleibt am Ende nicht viel vom Tag übrig.
Ich spazierte durch den überschaubaren und keineswegs schönen Ort. Einmal über den Basar, der aus Schiffscontainern aufgebaut war, die Hauptstraße runter und schon hatte ich wieder zwei Radfahrer getroffen. Meine Güte. Mehr Radfahrer in Murghab, als auf dem lebensgefährlichen Radweg auf der Venloer Straße in Köln. Diesemal ein Pärchen aus Polen.
Mein Bedürfnis nach Gleichgesinnten war damit gestillt. Ein kühles Bierchen in der Hand, schaute ich zu, wie die Schatten der umliegenden Berge immer größer wurden bis das gesamte Tal unter klarem Himmel im Dunkeln lag.
Abendessen im Hostel. Lecker gegrilltes Fleisch und Salat. Trotz ungewöhnlicher Appetitlosikgkeit, ließ ich mir dieses schmackhafte Mahl nicht entgehen. Und schlagartig fuhr mein Organismus runter: Kalte Hände und Füße, aber der Rest meines Körpers glühte förmlich. Ultimative Erschöpfung. Bis dann irgendwann alles aus mir rausschoss. Oben. Mal wieder. Wenigstens war es diesmal nur oben!
Erschöpft und aufgewühlt überlegte ich, ob ich meine Reise am kommenden Tag fortsetzen sollte. Am Morgen hatte ich einen Bärenhunger auf Frühstück und beschloss anschließend meinen Weg fortzusetzen.
Und so setzte ich meinen Weg schließlich fort. Ich bepackte mein Rad und kam mit einem Pärchen ins Gespräch, die ebenfalls zusammenpackten. Sie waren allerdings motorisiert und mit Cross-Maschinen unterwegs. Wir unterhielten uns über die Vor- und Nachteile unserer jeweiligen Reisemittel und ich konnte etwas Öl für meine Kette abzwacken. Der viele Staub hatte auch meinem Getriebe reichlich zugesetzt. Gut geschmiert, dennoch langsam und bedächtig, radelte ich etwas später als gewohnt von dannen.
So klein und hässlich der Ort auch gewesen sein mag – Es war wieder einmal schwer genug dieses Fünkchen Zivilisation zurückzulassen. Vor allem in Anbetracht dessen, was folgte. Es war nichts schlimmes. Wirklich neu war es auch nicht. Aber so einsam und verlassen wie auf dem folgenden Teilstück zum Ak Baital Pass habe ich mich bisher auf keiner Tour gefühlt. So unbeschreiblich intensiv und berauschend wie das Freiheitsgefühl, dass mich auf dieser Reise regelmäßig übermannte, so stark war das Gefühl der Einsamkeit und absoluten Isolation auf diesem Abschnitt.

Die Königsetappe. Von Murgab waren es gute 70 Kilometer bis zum höchsten Punkt auf dem Pamir Highway. Nicht optimal, wenn man müde, schlapp und mit Kopfschmerzen startet. Abundzu redete mein Magen mit mir. Bei dem Gerumpel über Stock und Stein aber auch kein Wunder. Unheimlich und eigenartig waren die Gestalten wenige Kilometer hinter Murgab. Straßenarbeiter, die um sich vor Sonne und Sand zu schützen, Lumpen über ihre Köpfe gezogen hatten. Mit kleinen Löchern für die Augen. Wie von einem anderen Planeten. Einschüchternd blickten sie in meine Richtung, als ich vorbeifuhr und ich war froh auf dem Rad zu sitzen.

Kurze Zeit später traf ich ein ebenfalls Rad fahrendes Pärchen aus Frankreich, die aus entgegenkommender Richtung herbeiradelten. Wir tauschten Tipps über die jeweils folgende Reiseroute und weiter ging es.
Jetzt spürte ich die letzte, unangenehme Nacht und es fiel schwer den richtigen Tritt zu finden.
Eine Gruppe Radfahrer, drei Mädels und ein Typ, saßen mitten auf der Straße und spielten Karten. Warum auch nicht, kommt ja eh keiner. Postapokalyptische Szenen, willkommen auf dem Pamir Highway.
Es war einer der verkehrsruhigsten Tage überhaupt. Maximal fünf Fahrzeuge rissen mich an diesem Tag hin und wieder aus meinen Gedanken.
Der Ak Baital Pass war nicht mehr weit. Gleichzeitig gab es kein Anzeichen für jegliches Leben. Keine Autos, keine Radfahrer, nichts und niemand war zu sehen. Das einzige Geräusch war der Wind, wie er seinen Weg über die schier unendlichen Weiten des staubig, felsigen Pamir-Plateaus fortsetzte. Ich war ganz allein.
Zu meiner rechten tauchte immer wieder der Grenzzaun zu China auf, das sich hinter den mit Schnee gepuderten Gipfeln befand.
Wahrscheinlich trifft es leer am ehesten – um mich herum fühlte es sich richtig leer an. Der Pass nahte und vom ganzen philosophieren über die Einsamkeit, hatte ich fast vergessen, warum ich da war. Gleichzeitig kehrte meine Energie zurück. Und ich würde jedes Körnchen davon benötigen, um den 4655 Meter hohen Ak Baital Pass bezwingen zu können.
Nicht nur die schiere Höhe, sondern vor allem die Steigung auf den letzten zwei Kilometern verlangten mir alles ab. Fünf Kilometer vorher sah ich noch einen Koreaner, der mir in gebrochenem Englisch versuchte zu erklären, wie steil es wirklich war. Aber angesichts seines hoffnungslos überladenen Fahrrads, relativierte ich seine Aussage entsprechend. Aber Recht hatte er! Es war unmenschlich steil. Aber was erwartete ich auch anderes in der dieser Mars-Landschaft. Steil, steiler, Ak-Baital-steil.



Triumph. Erschöpfung. Freude. 4655m. Ob ich jemals wieder in solcher Höhe Fahrrad fahrend unterwegs sein werde?

Der Pass war bezwungen, aber die Abfahrt, wenn man diese Schlagloch-Waschbrettpiste überhaupt so bezeichnen konnte, wartete auf mich. Volle Konzentration, viel Geduld und Kraft aus den Unterarmen, um Lenker und vor allem Bremshebel festzuhalten, waren gefragt. Es war die Hölle. Darauf war ich nicht gefasst und empfand es als das größte Übel, dass ich je auf einer Reise erlebt habe. Dieser Trip barg alle Superlative und setzte neue Maßstäbe. Nichtsdestotrotz bin ich während meiner letzten Australienreise schlimmere und längere Abschnitte auf Waschbrettpisten gefahren. Der feine, aber entscheidende Unterschied war jedoch, dass ich darauf eingestellt war. Nun denn.

Ich juckelte so weit es ging, bis ich entnervt und entkräftet den aktiven Part des Tages für beendet erklärte. Ein starker und frischer Wind blies mir in dem Tal entgegen und es gab kaum eine Möglichkeit sich zu schützen. Also schlug ich mein Zelt so dicht es ging am Wall der Straße auf.
Der nächste Morgen startete gut. Ich musste nur noch wenige Kilometer auf der Buckelpiste zurücklegen und erreichte alsbald den See Karakul. Querfeldein kamen drei Gestalten auf mich zugeradelt. Drei Franzosen mit Fat-Bikes. Ich beneidete die Jungs um ihre fetten Reifen (und die Bambus-Rahmen ihrer Räder!). Vor allem nach dieser Huppel-Passage. Wir quatschten über das Wakhan-Valley und dass wir alle nochmal hierherkommen wollten, um diese wundervolle Gegend auf- und abseits der Wege zu erkunden.

Wenig später erreichte ich den kleinen, gleichnamigen Ort am See. Ein trostloser Fleck. Ich hielt an, snackte und beobachtete, wie sich ein Mann auf freiem Feld und mitten im Dorf, hinhockte und sein Geschäft erledigte. Wahnsinn. Dass Toiletten und Toilettenpapier Luxus sind, hatte ich bereits gelernt, aber diese Szene offenbarte nochmals andere Dimensionen. Dort war es das Normalste auf der Welt.
Nur noch zwei Pässe über 4000 Meter. Der zweite markierte die Grenze zu Kirgisistan. Der erste wartete direkt nach dem See. Kein Problem. Aber dann kam es richtig dicke.
Im Tal zum nächsten und letzten Pass braute sich etwas zusammen. Wind. Eisiger, stürmischer Wind. Was am Abend vorher begann, fand am Mittag des Folgetages seine Fortsetzung. Aber ungleich heftiger. Sand blies mir wie Schmirgelpapier ins Gesicht und eine um die andere Böe peitsche mir um die Ohren. Ich schrieb: “Wenn ein Auto gekommen wäre, ich hätte es angehalten und wäre mitgefahren.“
Unwirtlich ist kein Ausdruck. Es war abartig. Der Pass war keine fünf Kilometer entfernt, danach wäre es sicherlich besser. Aber niemals würde ich es unter diesen Bedingungen schaffen. Mit letzter Mühe und Not schaffte ich es mein Zelt hinter einem Sandhaufen aufzustellen. Sand überall. Ich schleppte Felsbrocken heran, beschwerte mein flatterndes Zelt und baute zusätzlich eine kleine Mauer, um den Wind zu bremsen.
Ich war fix und fertig. Es war noch früh am Tag und ich hegte die Hoffnung später weiterfahren zu können. Ich aß eine extra große Portion Haferflocken. Der viele Sand machte die Portion ungewollt crunchy. Ballaststoffe, nennt man das dann wohl.
Ich versuchte diese Zwangspause zu nutzen, um mich auszuruhen. Aber an Ruhe war sicher nicht zu denken. Der Sturm tobte, riss, drückte, zerrte an der dünnen Schutzschicht, die mich vor dem Draußen trennte.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber nach der Stärkung und der Pause in der ich meine Gedanken sammeln konnte, bildete ich mir ein ich könnte es doch irgendwie schaffen weiterzufahren.
Schließlich ist das doch mein Ding: Stoisch eine Pedalumdrehung nach der anderen. Irgendwann und irgendwie würde ich schon oben ankommen. Auf nach Kirgisistan!
Mit Gebrüll nahm ich die letzten 350 Höhenmeter in Angriff. Aber der Wind trug meine Schreie weiß Gott wohin. Oder mein Schlachtruf wurde schlichtweg vom Sand erstickt.
Ich bildete mir ein, dass es besser, und wieder heller geworden war. Irgendwie bewerkstelligte ich es meine Sachen wieder einzupacken und mein Rad zu beladen. Es folgten dreißig bittere Minuten, in denen ich mit aller Kraft und Ruhe versuchte gegen den Wind und gegen den Berg anzukommen.
Der leichteste Gang, und ich hatte vor dieser Reise extra kleine Kettenblätter und Ritzel aufziehen lassen, fühlte sich an wie der schwerste.
Meine Knie bedankten sich. Jede Pedalumdrehung ein hart erkämpfter Sieg. Die Energie, Motivation und Euphorie, die ich aus dem Zelt mitnahm, reichte für diese eine halbe Stunde. Game Over.
In dieser Zeit habe ich weniger als 2 Kilometer zurückgelegt! Trotzdem soviel Kalorien verbrannt, als wären es 50 gewesen. Ich war geschlagen und als wäre das allein nicht schon hart genug gewesen, musste ich mir Gedanken machen, wie und vor allem wo ich die Nacht überstehen sollte.

Ein Abflussrohr für das Schmelzwasser markierte meinen Schlafplatz.* Der Pass war immernoch in dieselbe Wolke gehüllt, die sich nicht fortbewegen wollte. Ein Rätsel, bedenkt man diesen unfassbaren Wind. Dennoch war ich dankbar, dass es nicht regnete oder gar schneite.
Erschlagen kauerte ich also in meinem Zelt, mit dem sehnlichen Wunsch, dass sich das Wetter in der Nacht bessern und ich am nächsten Tag den Pass überqueren könnte. Offensichtlich wollte mich Tadschikistan noch nicht gehen lassen. Mit diesem Gedanken konnte ich schon viel besser leben und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nachtrag Januar, 2021: Zwar stammen die obigen Zeilen zum Großteil aus dem Jahr 2015, doch bleibt dieser Tag tief in meiner Erinnerung verankert. Abflussrohre haben seitdem eine ganz andere Bedeutung für mich. Seitdem habe ich viele weitere Radabenteuer bestritten, aber etwas so intensives in allen denkbaren Gefühlswelten, habe ich seither nicht mehr erlebt.