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Baldy Bruiser USA

Baldy Bruiser

Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Damals waren die Vereinigten Staaten der heiße Scheiß – true fact. Da musste man unbedingt hin. Am liebsten gleich für ein ganzes Austauschjahr. Auch heute kommen die meisten Trends mit zwei bis fünf Jahren Verzögerung über den Atlantik herübergeschwappt. Daran hat sich nichts geändert. Als ultimatives Reiseziel kann man Amerika aber schon länger nicht mehr bezeichnen. Heute muss man nach schon richtig weit weg: Australien oder Neuseeland.

Zwar mag das aktuelle Motto make America great again lauten, aber ich denke der derzeitige Verrückte im weißen Haus hat damit nicht vor mehr Ausländer in sein Land zu locken. Aber das ist ein anderes Thema. Nun, warum zieht es mich immer wieder in the land of the brave and the free? Es sind die viel zitierten unbegrenzten Möglichkeiten. Und damit meine ich nicht die gebetsmühlenartig propagierte Chancengleichheit von tatsächlich viele überzeugt sind. Natürlich meine ich die beinahe unbegrenzten Möglichkeiten für Draußen-Liebhaber.

Die USA sind für Autos gebaut und vor allem in den Küstenregionen dicht besiedelt. Aber es gibt genügend Landstriche und vor allem unzählige Nationalparks, in denen man tagelang keiner Menschenseele begegnet. Das ungemeine Freizeitpotenzial und die Bandbreite an unterschiedlichsten Klimazonen bieten ausreichend Abwechslung. Anscheinend so viel, dass nur ein Drittel aller Bürger einen Reisepass besitzen.

Anfang 2018 beschloss ich, dass ich in diesem Jahr endlich mal Kalifornien reisen wollte. Selbstverständlich mit dem Fahrrad. Los Angeles war das Ziel. Und wer mich kennt, weiß, dass ich nicht (nur) wegen des Walk of Fame und der Strandpromenade in Venice dorthin wollte.

Au contraire!

Inspirationsquelle war die Seite bikepacking.com. Auch die Route durch Georgien und Armenien im Sommer 2018 hatte ich deshalb ausgewählt.

In Kalifornien sollte es einmal quer durch die nordöstlich von L.A. gelgene Bergkette gehen. Mit dem Mountainbike. Einmal von West nach Ost über die San Gabriel Mountains bis nach Big Bear Lake und abschließend mit einem Abstecher in den Joshua Tree Nationalpark.

Nachdem ich dem antizipierten Jetlag bereits mit einer durchzechten Hochzeitsnacht vorgebeugt hatte, fiel mir die Umstellung auf die neue Zeitzone erstaunlich leicht.

Mein Flieger landete am späten Abend und kurz darauf bekam ich einen Eindruck von dem viel zitierten Verkehrschaos auf den Straßen in und um die Stadt. Eine Blechlawine bewegte sich kaum merklich über die sechs- bis achtspurige Straße. Ganz sicher kein Ort für Radfahrer.

Spontan entschloss ich mich für den kommenden Tag den Achterbahnpark Six Flags zu besuchen. Seitdem ich das erste Mal Rollercoaster Tycoon gezockt habe, war das ein lange gehegter Traum von mir. Nachmittagsmüdigkeit würde damit sicherlich nicht aufkommen.

Ich nutzte die landesübliche Fortbewegungsart: Das Auto. Natürlich via Uber. Das klappte stets reibungslos – auch wenn ich meine Fahrradbox transportieren musste. Zudem ersparte es viel Zeit bei der Parkplatzsuche und vor allem Nerven! Der öffentliche Nahverkehr ist ebenfalls positiv hervorzuheben. Mit einer Mischung aus Uber, Bus und Metro kam ich für relativ kleines Geld überall hin.

Den Vorteil einen Vergnügungspark unter der Woche und außerhalb der Ferienzeit zu besuchen: Keine Warteschlangen an den Attraktionen. Kleiner Nachteil: Nicht alle Achterbahnen waren geöffnet. Nichtsdestotrotz kam ich in den Genuss zehn verschiedene Achterbahnen, sowie das größte frei schwingende Pendel namens CraZanity auszuprobieren. Neben CraZanity konnte ich von den Achterbahnen Twisted Colossus und Full Throttle kaum genug bekommen. Einzige Quittung am nächsten Tag: Muskelkater im Nacken. Totally worth it. Definitiv besser als Jetlag.

Der zweite Tag der Reise brachte mich nach Downtown L.A., was relativ schnell abgehakt war, wenn man die Museen außen vor lässt. Mittels Mietrad lockerte ich meine untrainierten Beinchen und testete somit zum ersten Mal meine Radfahrtauglichkeit. Ein Fahrradunfall (geprellte Handgelenke), sowie Krankheit bescherten mir eine ungeplante vierwöchige Radfahrpause. Tatsächlich war bis wenige Tage vor Abflug absolut unklar, ob ich überhaupt Rad fahren würde. Nur eine Woche zuvor konnte ich mich noch nicht mal am Lenker abstützen!

Von Downtown L.A. ging es nach Venice und Santa Monica und danach wieder zurück. Das gab mir einen guten Eindruck von den unzähligen verrückten Gestalten die diese Stadt bevölkern. Los Angeles nach einem Tag in drei Worten: Sonne, Grasgeruch und Obdachlose.

Am Abend nahm ich den Zug nach Fullerton um eine Freundin und ihre Familie zu besuchen. Wir hatte uns vor vielen Jahren im Yukon Territory in Kanada kennengelernt. Dort arbeitete ich für eine Saison als Kanu- und Kayaking- Guide, wo sie als Teilnehmerin dabei war. Ihr damaliger Besuch im Goldgräberstädtchen Dawson verleitete sie sogar dazu ein ganzes Jahr lang dort zu leben. Ein Sourdough (Sauerteig), wie man die Hartgesottenen nennt, die es schaffen den langen, dunklen Winter zu überdauern. Die Welt ist nun mal ein Dorf. Eine Erfahrung die jeder Reisende früher oder später macht.

Obwohl ich der Familie erstmals begegnete, wurde ich wie ein Familienmitglied empfangen. Wow! Über Wein und japanisches Curry unterhielten wir uns über meine Radfahrambitionen. Und ehe ich mich versah, hatte ich zugesagt am nächsten Morgen bei der lokalen Radgruppe mitzufahren. Skurril nicht nur deshalb, weil ich mich aufgrund genannter Gründe weit außerhalb meiner Sommerform befand, sondern vor allem weil sich die Zahl meiner Gruppenfahrten an einer Hand abzählen lässt.

So ging es in aller Frühe und mit dem Zweitrennrad eines Familienfreundes zum örtlichen Radladen – dem Treffpunkt für den Wednesday bunch ride. Eine bunt gemischte Gruppe aus zehn Personen begrüßte den Neuankömmling aus Germany, der den Altersschnitt um jahrzehnte nach unten korrigierte. (Die alten Hasen und Häschen waren aber durchweg fit!).

Die kühle Morgenluft wurde zeitgleich mit dem fürchterlichen Rush Hour-Verkehr durch wärmende Sonnenstrahlen vertrieben. Nach einer guten Stunde Fahrt sehnte ich mich bereits nach der von allen Teilnehmern beworbenen Kaffeepause. Aber erstmal war ich froh, dass ich problemlos mithalten konnte und nicht am Ende der Gruppe herumlutschen musste. Aber da waren ja auch erst 25 Kilometer gefahren…

Es wurde etwas hügelig, was Scott und ich für ein paar schnellere Ausflüge nutzten. Der letzte Anstieg des Tages wurde angekündigt, die hochgelobten Schokocroissants konnten also nicht mehr weit sein. Im augenscheinlich wohlhabenden Newport Beach kehrten wir in die C’est si bon Bakery ein. Der erste Kaffee seit langem verfehlte seine Wirkung nicht. Dazu ein Croissant, das auch aus einer französischen Boulangerie hätte kommen. Pause: gelungen!

Nach der kleinen Stärkung wurde das Tempo etwas angezogen. Das musste an den Croissants liegen. Entsprechend flott flogen wir den schmalen Radweg entlang des Rivertrails zurück in Richtung Fullerton. Im Hintergrund die Berge, die ich auf meiner Reise überfahren wollte. Als wir auf dem sauberen, gut fahrbaren Radweg dahinflogen, erzählte mir die Gruppe, dass bis vor zwei Wochen hunderte Obdachlose am Wegrand lebten. An diesem Tag sah es aus, als wäre die Strecke gerade neu gebaut worden. Wo die Menschen jetzt seien? In L.A. gibt es genug Platz, davon habe ich ja bereits einen Eindruck bekommen.

Schneller als mir lieb war, war das Croissant verstoffwechselt und zweite Hunger meldete sich. Da war es aber auch noch ein Stück bis ins Ziel. Am Ende waren es dann doch 115 Kilometer. Hoppla! Da kam Scott’s Einladung zum Besuch der örtlichen Taqueria gerade recht. Kobe Bryant isst aß auch gerne mal dort. Was man angesichts der etwas schäbig daherkommenden Plastikeinrichtung nicht denken würde. Es war eine Bude, wie man sie an jeder Ecke in Kalifornien finden kann. Was an Chic fehlte, machte die Bude durch Charme und Geschmack wett. Winner!

Auf die Essenseinladung folgte sogleich der Vorschlag beim donnerstäglichen Sunset Ride mitzumachen. Bei so einem wohlklingenden Namen, konnte ich schlecht nein sagen. Eine kleine, lockere Mountainbike-Runde in den Chino Hills mit einem alten Schulfreund von Scott. Eigentlich wollte ich ja meine Tour starten. Aber eigentlich hatte ich auch nicht wirklich einen Plan. Den besten Tipp, den ich jedem Reisenden geben kann: Go with the flow. Anders gesagt: Mach keine Pläne und sei flexibel!

So baute ich am Vormittag des nächsten Tages endlich mal mein Mountainbike zusammen, kaufte kiloweise Clifbars, Erdnussbutter, Honig und Trockenfrüchte und legte alles für meine auf fünf Tage anberaumte Tour bereit. Zumindest hatte ich damit einen Grundstein für mein Vorhaben gelegt. Auf der anderen Seite fühlte ich mich mittlerweile dermaßen wohl und heimisch, dass es mir an diesem Punkt äußerst schwer fiel mich auf ein Abenteuer zu begeben, das schon auf dem Papier hart aussah. Bestätigt wurde mir das durch die großen Augen der lokalen Radfahrer, die immerzu fragten wo genau ich denn langfahren wollte…

Abends ging es jedenfalls erstmal in die Chino Hills. Natürlich ohne Gepäck. Ich fühlte mich sehr unsicher auf dem Mountainbike und fuhr wortwörtlich mit angezogener Handbremse. Wir hatten einen traumhaften Blick auf die umliegenden Berge und sogar das Meer. Alles andere als üblich, bemerkte Scott. Stichwort Smog. Der Sunset Ride machte seinem Namen alle Ehre.

Leicht fiel mir der Trip allerdings nicht. Dabei war ich doch ohne Gepäck unterwegs! Die Anstiege waren knackig. Und dann hatte ich auch noch einen Platten. Das erste Mal seit Monaten führte ich keinen Ersatzschlauch mit. War ja klar. Scott ist clevererweise tubeless unterwegs und hatte Gott sei Dank trotzdem einen Schlauch dabei. Übeltäter war ein Goathead (Ziegenkopf). Fiese pyramidenartig angeordnete Dornen, die ich nur zu gut von einem Trip durch die Südstaaten kannte.

Als Entschädigung genossen wir einen feuerroten Sonnenuntergang mit Blick auf den Pazifik. Poke-Bowl zum Abendessen und dann mental auf den nächsten Tag vorbereiten. Endlich war es soweit. Wobei das Radfahren bis hierhin sicher nicht zu kurz gekommen war. Trotzdem verspürte ich große Lust endlich mein Zelt in der kalifornischen Natur aufzubauen.

Jetzt ging es tatsächlich doch noch auf die Reise, weshalb ich überhaupt nach Kalifornien geflogen bin. Nach einer üppigen Henkersmahlzeit, wurde ich von Scott zum Bahnhof in Fullerton gebracht. Von dort sollte es nach Pasadena gehen, den Startpunkt meiner Route. Kaum auf dem Bahnsteig, wurde ich von zwei anderen Radfahrern angesprochen. Sie steuerten mit ihren leicht bepackten Rennrädern irgendein Oktoberfest an und freuten sich natürlich einen echten Deutschen zu treffen.
Der Zug kam und fuhr ohne mich ab, weil mich die “freundliche” Schaffnerin nicht ohne Radreservierung einsteigen lies. Nicht das genügend freie Stellplätze vorhanden gewesen wären. So war ich kurz an Deutschland erinnert. Als Tipp für Nachahmer: Nicht mit Amtrak, sondern mit Metrolink reisen. Dort benötigt man keine Reservierung. In diesem Moment alles halb so wild. Ich hatte mehrere Tage gewartet die Tour zu starten, da war eine halbe Stunde mehr oder weniger auch egal. Vor allem, wenn man in der warmen Sonne warten kann. Eile mit Weile.

Der zweite Zug kam und fuhr diesmal mit mir und meinem Monsterrad ab. Warten macht hungrig und ich verdrückte den ersten Clifbar. Dann ging es endlich aufs Rad! Von der schönen Bahnstation in Pasadena steuerte ich in Richtung des Angeles Forest. Auf leeren, breiten Straßen ging es zunächst durch die beschauliche Innenstadt, dann vorbei an ein paar Vorortsiedlungen wie man sie aus Film und Fernsehen kennt und schon war ich in der Wildnis.

Diesen Kontrast zwischen Vollgas-Konsumgesellschaft mit Fast-Food-Ketten und Geschäften mit Leuchtreklame auf der einen Seite und dem kompromisslosen Naturerlebnis auf der anderen Seite, fasziniert und überrascht mich in Amerika jedes Mal aufs Neue. Tückisch ist es obendrein, weil es suggeriert, das man jederzeit die Möglichkeit hat a Lebensmittel und Wasser zu gelangen. Dabei kann es passieren, dass man tagelang im Niemandsland unterwegs ist. Umso wichtiger ist es entsprechend zu planen und immer einen kleinen Puffer dabei zu haben. Und trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich die Menge aus Energieriegeln, Erdnussbutter, Honig und Tortillas jemals innerhalb der drei bis fünf Tage aufbrauchen würde.

Wenn man Angeles Forest hört, könnte man meinen es handele sich um einen Wald. Dabei fand ich mich zu Beginn erstmal in einer Wüste wieder, in der höchstens kniehohe Gestrüppe zu finden waren.

Es ging nach oben. Und auch wenn ich eine gute Vorstellung davon hatte, was mich auf den kommenden 10000 Höhenmetern erwarten würde, dass ich den ersten Kilometer schiebend und schweißüberströmt verbringen würde, hätte ich nicht gedacht.

Der Singletrack schloss an einen schmalen Jeeptrack oder eine Fireroad an – bei uns als Feld- bzw. Waldweg bezeichnet. Die Wege waren entsprechend breit und gut zu befahren, dafür aber noch steiler als Singletrack. Immer wieder fluchte ich über die Unmengen an Essen in meinen Packtaschen.

Weil es so steil war, hatte ich schnell einen schönen Ausblick über die unendlich wirkende Stadt. Wie bereits erwähnt: Es war bizarr – Ich konnte das riesige Gitternetz aus Häusern und Straßen sehen und gleichzeitig kam ich in den Genuss von absoluter Einsamkeit inmitten der Natur.

Nach den überaus anstrengenden ersten Kilometern begannen Körper und Geist endlich zu kooperieren. Ich war im Radreisemodus angekommen. Es war heiß und meine Wasservorräte neigten sich bereits dem Ende. Glücklicherweise wurde es mit der Höhe ein wenig kühler und mein Durst hielt sich in Grenzen. Dafür nahm die Kletterei kein Ende. Weiter und weiter schraubte sich der verschlungene Fahrt nach oben. Bis ich am Nachmittag auf eine Straßenkreuzung. Dort fand ich auch, hinter einer kleinen Mauer versteckt, endlich einen Frischwasserhahn. Die Rettung.

Der zweite Teil des Tages und der nächste Anstieg waren deutlich schattiger und damit auch angenehmer zu fahren. An der idyllischen Ruhe änderte sich glücklicherweise nichts. Es war der erste Tag, aber bereits zu diesem Zeitpunkt war ich regelrecht verliebt in diese Tour.

Das Höhenprofil im Hinterkopf und die vage Hoffnung an irgendeiner Art Geschäft oder Restaurant vorbeizukommen, fuhr ich immer weiter und weiter. Zwischenzeitlich war ich wieder auf einer Straße unterwegs und sah sogar das ein oder andere Auto. Von einer Tankstelle oder dergleichen fehlte weit und breit jede Spur.

Auch im südlichen Kalifornien waren die Tage zu dieser Tageszeit recht kurz. Die Sonne verschwand hinter den Bergen und die Temperaturen stürzten förmlich in den Keller. Aber es ging natürlich wieder bergauf und ich konnte mich warm halten. Ein Zeltplatz wäre so langsam mal schön, dachte ich mir. Aber wie gesagt, war ich auf einer Straße unterwegs und nachdem ich an diesem Tag auf so herrlich abgeschiedenen Wegen unterwegs gewesen war, wollte ich ausgerechnet bei der Wahl des Schlafplatzes keinen Kompromiss eingehen.

Aber es half alles nichts. Am Ende wurde es ein mittelmäßig akzeptabler Platz, der weit genug von der Straße entfernt lag um Ruhe und Privatsphäre zu genießen. Nicht, dass irgendein Auto vorbeigekommen wäre. Schön.

Als ich am folgenden Morgen mein Lager abbrach, sausten bereits die ersten Radfahrer durch die Kurve nach unten. Es war Wochenende und die frühen Vögel hatten sich bereits auf den Weg gemacht. Und dabei bin ich beileibe kein Langschläfer.

Während die einen auf der Gegenfahrbahn hinab schossen, strampelte ich mich auf der anderen Seite warm. Nach jeder Kehre legte ich ein Kleidungsstück ab und als ich auf dem Bergkamm ankam, war ich in kurz-kurz unterwegs. Herrlich!

Absolut in Gedanken versunken, fuhr ich den Berg hinauf. Um ein Haar wäre ich vom Fahrrad gefallen, als ich plötzlich lautstark von der Seite angesprochen wurde. Ein Rennradfahrer hatte sich sprichwörtlich herangepirscht und mich aus meinem angenehmen Flow gerissen. Es war der übliche Smalltalk: Wo kommst du her, wo willst du hin?

Als ich Mount Baldy erwähnte (sinngemäß übersetzt: Glatzenberg, Glatzkopfberg oder Kahler Berg)warnte er mich vor den steilen Passagen. Auch von Scott hatte ich das zu hören bekommen. Dieser Kollege setzte aber noch einen drauf als er meinte: “Ich habe kein Problem damit zuzugeben, dass ich in den Kehren leise geweint habe…”

Ist klar. So wird das nichts mit “make America great again!”

Als ich etwas später bei einem gesitteten Biker-Frühstück ein Gespräch zweier anderer Radfahrer überhörte, war ich dann doch ein Stück weit eingeschüchtert. Tatsächlich kommentierte der eine die Steilheit des Berges mit den Worten: “Ich habe dort schon Leute weinen sehen!”

Ich würde es in kürze selbst beurteilen können. Aber erstmal: Frühstück. Die Zweite. Pancakes, Scrambled Eggs, Bacon. Eine überfällige Abwechslung nach meiner Clifbar-Erdnussbutter-Tortilla-Diät.

Dann ging es auf der Straße nach oben. Mit den schlimmsten Erwartungen und der einsetzenden Mittagshitze quälte ich mich aufwärts. Wie schön wäre hier ein 7 Kilo Rennrad gewesen. Stattdessen wuchtete ich mein Monster nach oben.
War es steil? Ja. War es unrhythmisch? Ja. Hat es lange gedauert? Ja. Habe ich deshalb geweint? Hell no! Ich musste sogar lachen, als ich zwei Mountainbiker über mein Setup sagen hörte: Look at all this shit! Sagte der eine hörbar und schmiss sein Rad auf seinen Pickup-Truck. Look at all this shit! Dachte ich mir da.

Die Straße endete. Und JETZT wurde es steil. So weit fährt aber kein Straßenradfahrer. Loses Geröll in Kombination mit exorbitanten Steigungsprozenten ließen mir keine Wahl: Ich musste schieben. Und DAS war anstrengend!

Nach wenigen hundert Metern schloss der steile Pfad an einen gut ausgebauten Wanderweg an, der bis auf die zahlreichen Wochenend-Wanderer gut zu befahren war. Hin und wieder wehte vom Gipfelrestaurant der Geruch von deftiger amerikanischer Küche herunter.

Im absoluten Schneckentempo aber mit der allergrößten Anstrengung, überholte ich ein Wanderinnenduo. Der Überholvorgang dauerte lange genug, damit die beiden mich über meine Reise ausfragen konnten. Meine geschnauften und einsilbigen Antworten wurden mit einem motivierenden “impressive!” quittiert. Das gab mir den nötigen Extraschub für die letzten Kehren bis zum Gipfel.

Ein kurzer Blick ins laute, überfüllte und ausgesprochen ungemütliche Innere des Berg-Restaurants trieb mich schnell wieder nach draußen. Schweizer Berghütte trifft American Sportsbar. Thanks, but no thanks!

Also begnügte ich mich mit einem weiteren Clifbar. In meinem Fall, ohne Werbung machen zu wollen, waren diese Energieriegel wie Lembas bei Der Herr der Ringe; ich hatte ab Tag zwei eigentlich keinen Appetit mehr auf die Dinger, aber sie machten satt, gaben Energie und es wurden auf wundersame Weise auch nicht weniger.

Hätte ich mir doch den Stress in der amerikanischen Berghütte gegeben…

Dann fuhr ich erstmal weiter nach oben. Es war bereits Nachmittag und bis dahin war ich ausschließlich bergauf gefahren. Diesmal war es allerdings die falsche Richtung und brachte mir außer weiteren Höhenmetern nichts ein.

Und dann ging es hinab. Und zwar richtig. Leicht war die Abfahrt aber nicht. Große Brocken und loses Geröll verlangten meine hundertprozentige Aufmerksamkeit. Immer wieder war ich froh die Route nicht in der anderen Richtung gefahren zu sein. Das wäre eine lange, lange Schiebepartie geworden.


Nach den steilen Anfangskilometern mäßigte sich das Gefälle und ich konnte entspannter weiterrollen. Mein Weg führte an und durch ein großes, ausgetrocknetes Flussbett. Mit jeder Minute wurde es wärmer und plötzlich fand ich mich in mitten von sandiger Wüstenvegetation wieder.

Der gewaltige Temperaturunterschied zwischen Berg und Tal setzte mir gehörig zu. Der Wind kam von vorne und ich sehnte mich nach einem vernünftigen Abendessen. Jammern auf hohem Niveau.

Tagesziel war es den Interstate 15 zu überqueren. Wenn ich die Notizen zu der Route richtig gelesen hätte, wäre ich jetzt zu der Tankstelle gefahren die in Sichtweite war, aber eben nicht auf meiner Route. Stattdessen blieb ich off-road und musste mich durch das hoch frequentierte Eisenbahnschienennetzwerk wurschteln. Der Ortsname auf meiner digitalen Karte lies mich vermuten, dass ich dort ebenfalls auf Geschäfte treffen würde. Etwas später folgte daraus die schmerzliche Erkenntnis, dass ein Name auf der Karte nicht automatisch bedeutet, dass sich dort auch ein Ort befindet. Es kann auch einfach nur ein Parkplatz mit Unterführung sein. Schmerzlich, weil das bedeutete: Clifbars als Abendbrot!

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Von dem staubigen Parkplatz ging es auf eine noch staubigere Sandpiste, die aus dem Autobahntal hinausführte. Zu diesem Zeitpunkt und mit der Aussicht auf ein unbefriedigendes Abendessen, war das Fahren mehr als mühsam. Allerdings musste ich noch ein paar Meter machen, wollte ich nicht neben der lärmenden Autobahn schlafen.
Und so fuhr ich Kehre um Kehre nach oben. Und ich war nicht allein. Es war Wochenende und das bedeutete die Sandpiste wurde von Jeeps, Crossmotorädern und selbstgebauten Offroad-Buggies befahren. Toll! Immerhin wurde nicht geschossen. Welcome to America!

Weit über dem Interstate und mit Ausblick auf den hinter mir liegenden kahlen Bergriesen, durfte ich einen schönen Sonnenuntergang genießen, der immerhin ein kleines Bisschen über das traurige Abendessen hinwegtröstete. Aber hey! Drei Gänge: Crunchy Peanut Butter, Almond Fudge, Almond Coconut. Guten Appetit und gute Nacht.

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Ein Güterzug nach dem anderen ratterte schwer und mit vielen Signaltönen durch das unten liegende Tal. Außerdem veranstalteten ein paar der Allradantrieb-Enthusiasten eine Party in der Nähe meines Lagers. Nachtruhe sieht anders aus.

Am Morgen musste ich mir die Sandpiste dann wieder mit einer Allrad-Karawane teilen. Schmunzelnd überholte ich die Truppe, während einer der Jeeps an einem Hindernis hängen geblieben war. Dann konnte ich mich voll und ganz auf die sich mir präsentierende Herbstlandschaft konzentrieren. Ich überquerte Klimazonen am laufenden Band. Wüste, Wald, Schnee, Wüste und jetzt wieder in bunten Herbstwäldern. Dazu ein herrlich Ausblick auf Silverlake.

Die Landschaft konnte mich zeitweise sogar von meinem Hungerproblem ablösen. Seit mehr als 24 Stunden lebte ich nun von Clifbars. Tatsächlich neigte sich mein Vorrat langsam dem Ende. Aber nach dem gestrigen Abendessen wollte ich endlich mal wieder was anderes schmecken, als dieses nussig-süße Zeug.

Die nächste Ortschaft Blue Jay versprach dann endlich Abwechslung. An einer Tankstelle füllte ich meine Packtaschen auf und gönnte mir ein ausgiebiges Mittagessen in einer mexikanischen Kaschemme. Vollgefuttert und glücklich irrte ich eine Weile durch die Ausläufer des Ferienorts und bestaunte die wunderschönen Häuser, die allesamt zum Verkauf standen.

Dann war ich wieder fernab jeder Zivilisation. Dicke Steine, loses Geröll und tiefer Sand machten das Fahren streckenweise unmögliche. Den Großteil des Nachmittags musste ich schieben und machte nur wenige Meter. Dabei war mein Zwischenziel, Big Bear Lake, nicht mehr weit entfernt. Die vielen steilen Anstiege, das unwegsame Terrain und die fortgeschrittene Tageszeit setzten mir zu und ich wählte einen wundervollen Campspot, gute zehn Kilometer von Big Bear entfernt. In der Hoffnung, dass die übrigen Kilometer halbwegs befahrbar sein würden, genoss ich die Ruhe der Natur. Ohne Allradlärm, tutende Züge und Bier trinkende Rednecks. Idylle.

Der nächste Morgen war eisig. Obwohl ich nur sehr, sehr langsam fuhr, es ging bergauf, waren meine Hände taub von der Kälte. Handschuhe sind also auch in Kalifornien angebracht. Lesson learned.

Unterdessen verlangte der weiterhin technisch schwierige Pfad meine volle Aufmerksamkeit. Immer wieder ging es durch trockene Flussbetten, klapprige Holzbrücken, Sand und Pfützen. Für jeden was dabei. Ansonsten war ich fasziniert von der Farbenvielfalt der Natur. So verging die Zeit und ich kletterte die letzten Anstiege hinauf nach Big Bear Lake.

Auf einem sonnigen Radweg entlang es Sees konnte ich mich dann langsam aufwärmen. Im Ort steuerte ich dann schnurstracks zum Teddy Bear Restaurant. Natürlich musste es dann ein großer Stapel, Big Stack, Pancakes sein. Eine nicht enden wollende Abfahrt brachte mich zurück in die Wüste. Ich war auf dem Weg nach Pioneertown. Auf den sandigen Pisten kam wahres Wild-West-Feeling auf. Irgendwo in der Mitte vom Nirgendwo passierte ich kleine Enklaven aus Wohnmobilen, Holzverschlägen und ausgebauten Ranches. Rückzugsorte der Aussteiger. Why not?!

Dann erreichte ich das Wildwestdorf Pioneertown. Natürlich wurde diese Kulisse gerade für Filmaufnahmen genutzt. Cowboys habe ich trotzdem keine gesehen. Außer den Saloons, Postämtern und Pferdetränken gab es nichts was mich dort hielt und ich machte mich schnell wieder auf den Weg.

In Yucca Valley bekam ich dann wieder die volle Ladung Zivilisation. In meinem Fall aber genau das Richtige, da ich mich für meine Ausflug in den Joshua Tree Nationalpark eindecken konnte. Zunächst musste ich aber erst nochmal im Park anrufen, da es vor meiner Abfahrt starke Regenfälle gegeben hatte, die mehrere Teile des Parks unpassierbar machten. Am Telefon wurde mir bestätigt, dass die von mir geplante Route wieder befahrbar war. Nichts wie los! Denn das Tageslicht drohte mir auszugehen. Und ich musste einen der gekennzeichneten Campingplätze erreichen. Wild campen im Nationalpark ist definitiv keine gute Idee. Und so begann das Rennen gegen den Wind und das schwindende Tageslicht.

Während die anderen Parkbesucher die tief stehende Sonne für schöne Fotoaufnahmen nutzten, trat ich mit den letzten Energiereserven in die Pedale wie ein Bekloppter. Auf dem ersten Zeltplatz angekommen erstmal Ernüchterung: Ich brauchte passendes Wechselgeld UND überhaupt erstmal einen Platz für mein Zelt. Da merkte ich, dass ich im Land der bargeldlosen Bezahlung war, denn es brauchte fünf Anläufe, um jemanden zu finden, der mir Geld wechseln konnte. Und dann musste ich überhaupt erstmal einen Platz in dem überfüllten Camp finden.
Als ich vermeintlich eine freie Fläche gefunden hatte, kamen zwei Burschen auf mich zu und meinten sie hätten dort bereits reserviert. Bürokratie in der Natur. Das war ja genau mein Ding! Aber glücklicherweise hatte ich es ja mit Amis und nicht mit zugeknöpften Deutschen zu tun. Im gleichen Atemzug boten mir die zwei dudes an den Platz und damit auch den Preis zu teilen.
Der Vollmond leuchtete taghell und sorgte für eine magische Stimmung. Auf den umliegenden Felsen waren noch einige Kletterer unterwegs, die ich bei meinem ausgiebigen Abendessen beobachtete. Die Luft kühlte ab und wurde mit süßlich würzigem Grasgeruch erfüllt. Zeit für Entspannung auch bei mir und ich fiel schlagkaputt ins Bett.
Mitten in der Nacht wurde ich vom markdurchdringenden Kreischen der Kojoten aufgeschreckt, die anscheinend in großen Scharen den Park durchstreiften.

Am nächsten Morgen ließ ich es recht gemütlich angehen und quatschte noch eine Weile mit meinen Zeltnachbarn, die am späten Abend auch noch eine deutsche Familie auf unseren Stellplatz eingeladen hatten. Platz war jedenfalls genug.
Die beiden waren gerade dabei wieder aus der Army auszusteigen. Dabei klang ihr Search and Rescue Job überaus spannend. Aber als ich mich mit den beiden so unterhielt, konnte ich mir auch nicht vorstellen wie die beiden langfristig das entbehrungsreiche und restriktive Leben im Militär überdauern konnten.

Über eine Offroad-Piste sollte es am nächsten Tag zum zum anderen Parkende gehen. Leicht gesagt, aber mit jedem Meter wurde die Strecke sandiger. Immer wieder bremsten mich tiefe Sandabschnitte schlagartig ab, da fester Sand nicht vom tiefen Sand zu unterscheiden waren.
Mal wieder war ich in der Mitte vom Nirgendwo. Und genau hier verlief der San Andreas Graben, eine der wenigen Kontinentalplattengrenzen, die an Land liegen. Diese Verwerfung trennt die pazifische von der nordamerikanischen Platte, die sich in entgegengesetzter Richtung zueinander bewegen und die Ursache für Erdbeben in der Region sind.
Nach dem anstrengenden Stück durch den Nationalpark, dass sich wie Gummi zog, folgte eine lange Abfahrt durch ein trockenes Flussbett. Entsprechend schwierig war es auch hier nicht zu stürzen. Felsbrocken, Sand, Geröll und eine Vielzahl möglicher Wege beanspruchten meine ganze Aufmerksamkeit. Gleichzeitig musste ich aber immer wieder überlegen, was mein heutiges Ziel sein würde. Palm Springs lag nahe. Und von dort mit dem Zug nach Fullerton. So die Idee. Aber erstmal musste ich wieder in ein Gebiet mit Netzanbindung kommen, um das genauer zu prüfen.

Das weiträumige Flussbett wurde außerdem als öffentlicher Schießstand genutzt. Patronenhülsen, Bierdosen und durchlöcherte Autowracks verdeutlichten das. Und auch als ich dort war wurde scharf geschossen! “I did not see you there!”, bemerkte einer der Schützen mit Cowboyhut trocken, als ich vorbeifuhr. Willkommen in Amerika.
Ohne Schussverletzung erreichte ich wieder eine Straße. Nach ein paar weiteren Kilometern holte ich mein Telefon aus dem Flugmodus und suchte nach einer Zugverbindung von Palm Springs nach Fullerton.
Die einzige Verbindung fuhr jeweils am Nachmittag ab und würde mich innerhalb von zwei Stunden zurückbringen. Sofern ich es rechtzeitig bis nach Palm Springs schaffte. Wüstenhitze und Gegenwind ließen mich zweifeln, aber trotzdem versuchte ich mich etwas zu beeilen. Zu diesem Zeitpunkt waren meine Beine aber ganz schön alle. Neben den vielen Höhenmetern steckte mir vor allem das gestrige Zeitfahren gegen die untergehende Sonne in den Knochen.
Alle zwei Minuten blickte ich auf mein Navi und musste feststellen, dass ich nicht viel weiter gekommen war.
Ich passierte die Ortsgrenze der Wüstenstadt und war relativ zuversichtlich es gerade so schaffen zu können. Oder auch nicht, denn wo war denn jetzt die Bahnstation. Mein Navi lotste mich zum kleinen Flughafen von Palm Springs. Irgendwo hier musste wohl auch die Bahn sein. Aber ich konnte nichts finden. Nochmal konsultierte ich einschlägige Routenplanerapps. Neue Adresse, nochmal ein paar Meter weiter. Weit und breit nichts. Jetzt wurde die Zeit so richtig knapp und innerlich hatte ich bereits resigniert. Nochmal zurück zum Flughafen.
Mit aller Geduld, die ich in dieser stressigen Situation aufzubringen vermochte, blickte ich mich in Ruhe um. Ich suchte nicht mehr nach der Bahn, sondern sah mich einfach nur um. Und dann erkannte ich auf dem Bus, an dem ich schon dreimal vorbeigefahren war, die Aufschrift Metrolink und Fullerton.
Weil ich bei Metrolink erfahrungsgemäß an die Bahngesellschaft dachte, hatte ich nach einem Bahnhof gesucht!
Jetzt war meine nächste Sorge wegen des Rades nicht mitfahren zu können. Zudem hatte ich auch kein Bargeld mehr und Kartenzahlung war nicht möglich. In Amerika sind das aber keine Hindernisse, denn gegen meinen Ausweis als Pfand, konnte ich einfach am Ende der Fahrt am Bahnhof in Fullerton bezahlen. Das, liebe Deutsche Bahn, ist Kundenservice.
Zum Glück waren nur wenige andere Fahrgäste an Bord, denn Körperhygiene hatte in den vergangenen Tagen eine untergeordnete Rolle gespielt.
Ich genoss die kühle Luft der Klimaanlage und ließ die Erlebnisse der vergangenen Tage vor meinem inneren Auge Revue passieren. Dann kontaktierte ich Scott, der mich wieder bei sich empfangen würde. Und so schnell vergeht die Zeit.

Tatsächlich habe ich mir am nächsten Morgen nochmal die Mittwoch-Gruppenausfahrt gegeben. Damit waren es 8 Tage auf dem Rad, 10.000 Höhenmeter und 666 Kilometer. Ein herrlicher Abschluss nochmal mit den Locals zu fahren und von meinen Erlebnissen berichten zu können. Danach: Bier, Pizza, Hängematte und eine letzte Runde Sightseeing durch L.A. bevor es in den Flieger zurück nach Deutschland ging.